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Śantanu hatte auf der riesigen, dicken Decke Platz genommen, die sich aufgrund ihrer grellen, violetten Farbe weithin sichtbar von der moosgrünen Wiese abhob. Es dürstete ihn, und so trank er einen ganzen Krug voller köstlich kühlem Lassi leer, ohne auch nur einmal abzusetzen.
Sein Chefkoch Agnipūrṇa hatte das Getränk genau so zubereitet, wie Śantanu es liebte: den Joghurt lange gerührt, dass er fast sämig war, eine Spur Kardamom, einen Hauch von Salz, einen guten Schuss karamellisierten Zucker und schließlich die Krönung – kleine Stücke einer fast überreifen Papaya, die ganz vorsichtig und mit einer Prise gemahlenem Cumin angeröstet worden waren. Köstlich! Er ließ sich zwei weitere Krüge bereitstellen, einen für Devavrata, der noch immer damit beschäftigt war, die Wiese nach Kieselsteinen abzusuchen.
 
„Deva“, rief der König seinen Sohn bei seinem Spitznamen, der Vater wie auch Sohn gleichermaßen gefiel, „meinst du nicht, das du jetzt genug Steine gesammelt hast? Wir wissen alle, wie zielsicher du werfen kannst. Du musst das niemandem mehr beweisen. Und es sind ja auch noch zwei Wachen da. Sie werden die Affen schon davon abhalten, dich noch einmal so dreist zu bestehlen.“ Śantanu lächelte innerlich darüber, dass sich sogar der schlaue und flinke Devavrata einmal von den noch flinkeren und noch schlaueren Affen hatte übertölpeln lassen. 
 
„Da kannst du aber sicher sein – noch einmal werden die Nachfahren Hanumāns mich nicht überlisten.“ Devavrata warf ein kleines, schwarz-weißes Säckchen auf die Decke, das aus einer Art Leder gefertigt und randvoll mit Steinen gefüllt war, die nicht größer als Pflaumen waren. Die Maserung des Beutels erinnerte an das Fell eines Dachses und war auch nach all den Jahren noch immer überraschend flauschig. Der Götterjunge kniete sich auf die Decke und nahm einen großen Schluck aus seinem Krug. „Eure Affen sind um einiges frecher als unsere!“, bemerkte er nach dem ersten Schluck. „Bei uns würde sich kein Affe trauen, einen Deva zu berauben.“ Beide lachten über das Wortspiel des Prinzen. Sein Kosename war auch deshalb so passend, weil die Götter oft als Devas bezeichnet werden. Und mindestens zur Hälfte konnte sich auch Devavrata eine Gottheit nennen. 
 
König und Kronprinz setzten sich im Lotossitz vor ihre riesigen, silbernen Teller. Beide hatten, in unverabredeter Übereinstimmung, lediglich Früchte und Süßigkeiten zum Frühstück geordert. Auch in Fragen der Ernährung waren sich beide sehr ähnlich. Beide saßen aufrecht vor ihren Tellern und glichen sich auch sonst in Gestik und Mimik. Hätte nicht Devavrata ständig mit seiner linken Hand einen Stein in die Luft geworfen und wieder aufgefangen, hätte man denken können, dass sich dort ein älterer Krieger und sein jüngeres Spiegelbild gegenüber saßen.
 
Man aß im gleichen Rhythmus – bedächtig, ohne Eile und in konzentrierter Gelassenheit. Damit Agni sein Verdauungsfeuer voll entfachen konnte, war es notwendig, im Sitzen zu essen, sich Zeit zu nehmen und die Nahrung zu respektieren. Ablenkungen sollten vermieden werden, und daher waren Gespräche während des Essens selten. 
 
„Sunil, bitte sei so freundlich und bring mir noch einen Becher Lassi“, rief Śantanu einem seiner Diener zu, der daraufhin den leeren Krug mit sich nahm. Sunil war trotz seines hohen Alters immer noch schnell und umsichtig. Er hatte schon dem Vater Śantanus, Mahārāja Pratīpa, gedient und war so etwas wie der ungekrönte König unter allen Bediensteten am Hof. Er stammte aus einer entlegenen östlichen Provinz, die nicht nur für ihre majestätischen Tiger berühmt war. Es war jener Landstrich, wo die heilige Gaṅgā in den Ozean mündete. 
 
Sunil Mahādev Daśadvipa Bangla, so sein voller Name, war ein Gaṅgā-Bhakta, ein Verehrer Gaṅgās. Als er vor fünf Jahren hörte, dass der neue Königssohn ein direkter Nachkomme Gaṅgās sei, wäre er vor Entzücken fast ohnmächtig zusammengebrochen. Seine Augen hatten sich vor Ekstase mit Tränen gefüllt und seine Haare zu Berge gestanden. Noch heute rollen fast immer Tränen über sein Gesicht, wenn er vor Devavrata tritt oder ihm einen Dienst erweist. Verständlich, schließlich war er vermutlich der Erste in seiner Familie, der Gaṅgā nicht nur im Gebet oder auf dem Altar verehrten durfte. Er war der Erste, und für lange Zeit wahrscheinlich auch der Einzige, der Gaṅgāmātā einen Dienst dadurch darbringen konnte, dass er ihren Sohn beschützt und umsorgt. 
 
Während Śantanu auf Sunil und das Getränk wartete, betrachtete er, anfangs noch etwas unauffällig, dann aber völlig unverhohlen, seinen wunderschönen Sohn. Auch wenn die weichen, kindlichen Züge in Devavratas Gesicht langsam wichen und der Knabe vom Kind Gaṅgās zum Sohn Gaṅgās reifte, war die Ähnlichkeit mit der Mutter immer noch so verblüffend, dass es Śantanu schwer fiel, Devavrata anzuschauen und dabei nicht gleichzeitig auch an die berühmte Göttin zu denken. Devavrata bemerkte die Musterung und schaute in gleicher Weise zurück – liebevoll, bewundernd, sorglos, entspannt und gleichzeitig doch voller Neugier.
 
Keiner machte jedoch Anstalten etwas zu sagen. Śantanu hatte sich fest vorgenommen, noch vor dem Mittag jene Frage anzuschneiden, die keinen weiteren Aufschub duldete: Was hatte Gaṅgā, anlässlich ihres unerwarteten Zusammentreffens vor fünf Jahren, damit gemeint, dass Śantanu eine Rolle dabei gespielt habe, dass sie die Versammlungshalle Indras hatte verlassen müssen und in der Folge mit den Vasus zusammengetroffen war?
 
Was immer damals geschehen sein mochte, fest stand, dass sie sich nach dieser Begebenheit  bereit erklärt hatte, die Mutter für die Vasus zu spielen. „Zufällig“ war sie Śantanu begegnet und seine Frau geworden. Er hatte damals keine Fragen gestellt. Wenn man auf solch eine göttliche Schönheit trifft, stellt man keine Fragen. Dass die Herkunft seiner zukünftigen Frau im Dunkeln blieb, hatte ihm manche Kritik eingetragen. Doch wenn man auf solch eine göttliche Schönheit trifft, stellt man keine Fragen. Noch nie hatte ein König seiner Dynastie eine Frau unbekannten Ursprungs geehelicht, doch wenn man auf solch eine göttliche Schönheit trifft, stellt man keine Fragen.
 
Gaṅgā hatte sich, für ihn damals überraschend schnell, bereit erklärt, seine Königin zu werden. Nur zwei Forderungen hatte sie sich ausbedungen: Erstens, Śantanu durfte ihre Handlungen niemals in Frage stellen oder kritisieren; zweitens, er durfte niemals harsche oder unflätige Worte ihr gegenüber benutzen. Er hatte den Sinn dieser Bedingungen erst nicht verstanden. Warum sollte er diese göttliche Erscheinung jemals kritisieren oder beleidigen? Wie hätte solch ein vollendetes Geschöpf etwas tun können, was ihn zum Widerspruch reizen könnte? 
 
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, hatte er eingewilligt. Und bis zur Geburt seines ersten Sohnes war es wie der Himmel auf Erden. Lakṣmī, die Glücksgöttin, schien ihn mit vollen Händen zu segnen, ihn förmlich mit Ekstasen zu überschütten. Hätte er doch vor zwölf Jahren schon gewusst, welche Kostbarkeit in seinem Palast wohnte! Die heilige Gaṅgā persönlich! Obwohl, wenn er genauer darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, dass es doch besser gewesen war, dass er nicht wusste, dass die Frau, die sein Denken, Fühlen und Wollen bei Tag und bei Nacht beherrscht hatte, die leibhaftige Gaṅgā gewesen war. Ganz zu schweigen davon, dass er nicht hätte im Voraus wissen wollen, dass seine ersten sieben Söhne sofort nach ihrer Geburt sterben würden. 
 
Nein, es war wohl besser gewesen, dem Schicksal unvorbereitet entgegen zu sehen. Und außerdem: Da es ihm keiner erklärt hatte, wie hätte er es denn wissen sollen? Keiner seiner Lehrer hatte ihm soviel Wissen gegeben, dass er diese betörende Schönheit damals als Gaṅgā erkennen konnte. Was hatte er inzwischen nicht alles von Devavrata gelernt! Keiner der Gelehrten hatte ihm so viel über die Götter aus den Schriften berichtet und keines seiner vielen Opferdarbringungen und Rituale hatte ihm einen solch tiefen Einblick in kosmische Zusammenhänge gewährt, wie sein Sohn es getan hatte. Er war überzeugt, dass er sich nichts vorzuwerfen hatte. Wie hätte er auch klüger sein können als seine Lehrer! 
 
Während er diesen Gedanken nachhing, hatte er sich, genau wie Devavrata, erhoben. Nach dem Essen hieß es Hände und Füße zu waschen und den Mund auszuspülen. Beide beendeten fast zur gleichen Zeit das Ritual, setzten sich auf die Decke nieder und legten sich auf die verdauungsfördernde linke Seite. So entschlossen Śantanu war, seine Frage zu stellen, so unsicher war er doch, ob es klug war, die Sache frontal anzugehen. Andererseits war Devavrata viel zu intelligent, um nicht sowieso sofort zu bemerken, was in Śantanu vorging.
 
Vielleicht war es tatsächlich das Beste, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. Aber vielleicht auch nicht. Śantanu hasste dieses Zögern und Lavieren. Er war ein Mann der Tat. Was getan werden musste, packte er an, ohne sich zu ängstigen. Nicht, dass er sich übereilt in Abenteuer stürzte, er konnte durchaus Dinge abwägen und geduldig die Lösung suchen. Aber wenn er sich einmal für etwas entschieden hatte, dann wurde es auch umgehend umgesetzt. Und er hatte sich eindeutig dafür entschieden, heute diese Frage anzuschneiden. 
 
Seine Zögerlichkeit, die er selten in dieser Form erfahren hatte, machte ihn noch unsicherer. Diese Unsicherheit wiederum ärgerte ihn. Und der Ärger wiederum kostete ihn Energie, die er lieber in seine Entschlossenheit investiert hätte. Dass er sich über sich selbst ärgern musste, ärgerte ihn noch mehr. Er erkannte diesen Teufelskreis und wusste auch genau, was er einem anderen Menschen geraten hätte, würde der in einer solchen Lage feststecken. Er wusste nur zu genau, welchen weisen Ratschlag er in solch einer Situation geben würde. 
 
Aber aus irgendeinem Grund hatte Viṣṇu diese Welt so geschaffen, dass man die Hilfe anderer Personen braucht, um aus seinen Jammertälern heraus zu finden. Warum Hari das alles so eingerichtet hatte, war eine dieser Fragen, auf die es anscheinend Dutzende Antworten gab. Was hatten sich die Schriftgelehrten, Yogis und Weisen über dieses Thema nicht schon für Rededuelle geliefert. Und irgendwie schienen sie alle ein wenig recht zu haben. Viele dieser Debatten hatte Śantanu selbst angeregt und gehofft, dass er am Ende mit einer Antwort zufrieden sein könnte, anstatt mit mehreren. Aber eines hatte er noch nicht probiert: Devavrata zu fragen. Ja, genau das wollte er tun. Aber nicht heute. Heute ging es um eine andere Frage.
 
Śantanu starrte auf die Decke vor ihm. Dann entschied er, dass die Ameise, die es wagte, die kaiserliche Decke zu betreten, dazu nicht berechtigt war. Unermüdlich erklomm das Krabbeltier auf seiner Nahrungssuche eine widerspenstige Falte, nur um am Ende all der Mühen wieder am Fuße des Berges anzukommen, weil ein Riese mit einem Grashalm sie ein ums andere Mal zurück schleuderte. Als es Śantanu bereits langweilig geworden war, das arme Tier weiter so zu ärgern, weckte ihn der junge Prinz aus seiner Lethargie. Er knüpfte genau an jener Stelle an, an der Śantanus Gedanken stecken geblieben waren.
 
„Natürlich verlangt niemand von dir, dass du klüger bist, als deine Lehrer. Nebenbei bemerkt: dies ist überhaupt nur dann möglich, wenn man mehrere Leben in Betracht zieht. Aber dies ist ein anderes Thema. Martere dich nicht mit diesen Zweifeln. Wie hättest du ahnen können, dass deine heiß geliebte Frau die berühmte Gaṅgā in Person war. Andererseits, wenn du dich an dein letztes Leben erinnert hättest...“ 
 
Śantanus legere Sattheit war sofort verflogen, als er von seinem Sohn die Worte „letztes Leben“ vernommen hatte. Einen besseren Einstieg für die wichtige Frage, die er sich für heute vorgenommen hatte, konnte er nicht finden. Trotzdem zögerte er noch etwas. Er fühlte sich noch ein bisschen wie auf feindlichem Terrain. „Wenn ich dich recht verstehe, weißt du also, wer ich in meinem letzten Leben war! Hat dieses Leben auch etwas damit zu tun, was mit deiner Mutter in Indras Versammlungshalle geschah? Sie hatte damals so etwas angedeutet. Weißt du noch, an dem Tag, an dem du zurückgekehrt bist. An deinem zwölften Geburtstag.“
 
Devavrata lächelte. „Natürlich weiß ich das noch. Ich werde diesen Tag nie vergessen und auch keines der Worte, die du damals sprachst.“ Und mit einem breiten Grinsen fügte er hinzu: „Und ich werde bestimmt auch nie dein dummes Gesicht vergessen. In deinem offenen Mund hätte ein ganzer Fliegenschwarm landen können!“ Śantanu griff sich schnell das Säckchen mit den Kieselsteinen, das genau zwischen beiden lag, und warf es in Richtung seines Gegenübers, der es gekonnt noch im Fluge mit seiner freien rechten Hand auffing. „Ein guter Wurf, mein starker König, o bester unter den Werferinnen!“, meinte Devavrata sarkastisch. „Nicht so frech Rājaputra, etwas mehr Respekt vor dem Alter bitte ich mir aus!“, konterte Śantanu.
 
Beide lachten herzlich und lang. Śantanu tat so, als würde er einen Pfeil auf seinen Sohn entsenden und dieser wiederum fasste sich an die Brust, als wäre er von dem Pfeil tödlich getroffen worden. Stöhnend ließ er sich auf den Rücken fallen und blieb für einige Sekunden regungslos liegen. Dann richtete er sich wieder auf und warf den Kieselbeutel wieder auf die Decke, nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass kein Affe in der Nähe zu sehen war.
 
„Devavrata, ich bitte dich, antworte mir ernsthaft und ehrlich. Kennst du mein letztes Leben? Und hatte es etwas mit deiner Mutter zu tun?“ Der Königssohn antwortete nicht sofort, sondern schaute dem Fragenden nur prüfend in die Augen. Śantanu spürte eine erwartungsvolle Spannung. Vielleicht bildete er sich das ja nur ein, aber er hatte tatsächlich das Gefühl, dass nicht nur die beiden Menschen verstummt waren, sondern dass alle Tiere des Waldes ebenfalls aufmerksam lauschten. Es schien sich eine breite Stille über den Hain zu legen, die so allumfänglich war, dass man sogar das Planschen und Rufen des Kutschers und seiner Gehilfen in der Ferne, unten am Fluss, hören konnte.
 
„Mein Vater, du musst mich nicht zu Ehrlichkeit ermahnen. Niemals hat eine Lüge meine Lippen gesehen noch werde ich in Zukunft jemals die Wahrheit unterliegen lassen. Manchmal wird Dharma mit einem Rind verglichen und die vier Säulen der Religion mit den vier Beinen dieses Rindes. Wahrhaftigkeit ist eines der Beine dieses edlen Tieres und niemals werde ich dieses Bein verletzen.“ Devavrata sprach weder in einem verteidigenden noch in einem vorwurfsvollen Ton. Er wirkte völlig entspannt und gefasst. Aber man merkte ihm trotzdem an, dass er sich darauf vorbereitete, über etwas Bedeutendes zu sprechen.
 
„Seit langem habe ich auf diese Frage von dir gewartet. Meine Mutter überließ es mir, ob und wie und wann ich dir diese Frage beantworten darf. Ich denke, dass du den Rest der Geschichte heute erfahren solltest. Dir wird nicht alles gefallen, was du von mir hören wirst. Aber es ist die Wahrheit. Und die Zeit ist reif für die Wahrheit.“
 
 
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